Gastautor: Matthias Burzinski

Innovative Angebote zielgruppenorientiert entwickeln

Was ist Ihr erster Reflex, wenn Sie an Marktforschung denken? Und daran, welche Informationen Sie über Gäste und Kunden*innen zusammentragen können? Vermutlich denken Sie zuerst an Befragungen, große Milieustudien, eigene Gästebefragungen u. Ä. Ihnen kommen vielleicht Zahlen, Diagramme oder harte Fakten in den Sinn. Aber: haben Sie damit wirklich Ihre Zielgruppen, Ihre Gäste verstanden? Haben Sie damit auch einen Zugang, wie Sie denken, fühlen, reagieren oder in welcher Stimmung sie gerade bei Ihnen vor Ort sind?

In diesem Beitrag möchten wir Ihnen einige Methoden vorstellen, wie Sie Ihre Angebote noch besser auf die Bedürfnisse, Wünsche oder auch Probleme Ihrer Gäste und Kunden*innen ausrichten können. Dabei geht es nicht nur darum, was diese sagen oder mal „angekreuzt“ haben, sondern auch darum, wie sie sich fühlen, was sie wahrnehmen und wie sie sich in der Realität und situativ verhalten. Denn nur wenn Sie Ihre Gäste wirklich verstehen, können Sie innovative Lösungen, Services oder Erlebnisse entwickeln, die einen echten Mehrwert schaffen.

Kernfrage ist also: Wie lerne ich die Gäste und Kunden*innen wirklich kennen? Diese Frage ist der Ausgangspunkt für eine Recherche, einen Erkenntnisprozess, den Sie systematisch und strukturiert mit einem so genannten Research Canvas planen können. Ein Research Canvas ist ein Werkzeug, das Ihnen hilft, Ihre Ziele, Fragen, Hypothesen, Methoden und Erkenntnisse zu dokumentieren und zu visualisieren.

 

Wie ist ein Research Canvas aufgebaut?

Wir können uns das Research Canvas wie eine Workshop-Pinnwand oder ein Online-Board vorstellen, auf dem wir gemeinschaftlich im Team an den Grundlagen unserer Gästeanalysen arbeiten. Es beantwortet im Wesentlichen folgenden Fragen:

Was wollen wir eigentlich herausfinden und ergründen? Dieser Fokus ist besonders wichtig, um die richtigen Methoden anzuwenden. Hier können auch Hypothesen formuliert werden.

Was möchten wir beobachten? Was wollen wir je nach Fokus erfassen, z.B. allgemein das Gästeverhalten oder auch ein spezifisches Problem bei der Nutzung eines Wanderweges, einer Attraktion oder der Website etc.?

Welche Methoden wenden wir an (s. auch unten)?

Was benötigen wir dazu vor Ort bzw. bei der Erhebung? Wie dokumentieren wir unsere Erhebungen und Erkenntnisse? Benötigen wir dazu bestimmte Medien, Materialien oder Voraussetzungen?

Mit wem möchten wir sprechen und kommunizieren? Hier ist eine genaue Definition der Menschen gefragt, z.B. bestimmte Personas, Teilgruppen wie Kinder, Frauen, Wanderreisende, ein bestimmtes Milieu etc.

Welche Probleme können (bei der Erhebung) auftreten und wie gehen wir damit um? Es könnte z.B. sein, dass wir bei Gästen auf Ablehnung stoßen u.v.m.

Welche Fragen wollen wir konkret stellen?

Wie ist die Rollenaufteilung und wer macht was?

Wie ist der Zeitplan? Und zwar bezogen auf die Saison bzw. einen längeren Zeitraum und auch bezogen auf die Wochentage und/oder Tageszeit.

Research Canvas – Kunde im Fokus

Sie können ein Research Canvas zum Beispiel mit Post-its oder einer Online-Workshop-Plattform erstellen, gemeinschaftlich mit Ihrem Team oder beteiligten Akteuren*innen füllen und selbstverständlich auch permanent anpassen. Durch dieses Vorausdenken lässt sich eine Erhebung wesentlich effizienter umsetzen.

Wichtig ist es, einige grundlegende Regeln zu beachten, um die Gäste und Kunden*innen wirklich in den Mittelpunkt zu stellen:

  • Uns muss klar sein: Die Gäste und Kunden*innen geben uns die wichtigsten Informationen darüber, was wir entwickeln oder schaffen wollen.

  • Um wirklich sinnvolle Angebote, Services oder Erlebnisse zu entwickeln, müssen wir die tieferen Bedürfnisse der Menschen kennen oder konkrete Probleme für sie lösen.

  • Die Probleme und Wünsche der Gäste oder Kunden*innen sind nicht automatisch auch unsere Probleme und Wünsche.

  • Wir betrachten die Gäste oder Kunden*innen und begegnen ihnen in ihrem jeweiligen Kontext, also möglichst „live“.

  • Wir wechseln die Perspektive und versetzen uns wirklich in die Situation der Gäste oder Kunden*innen hinein.

  • Ein tiefes Verständnis der Situation ist mehr wert als eine hohe Zahl an Interviews oder Kontakten.

  • Gäste oder Kunden*innen werden mit einbezogen.

  • Wir wollen nicht unsere Hypothesen bestätigen, sondern dazulernen. Eine widerlegte Hypothese ist auch eine gute Hypothese.

Mit welchen Methoden arbeiten wir?

Einer der wichtigsten Schritte ist die Auswahl und Anwendung von geeigneten Methoden, um Informationen und Erkenntnisse über Ihre Gäste und Kunden*innen zu sammeln. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, je nachdem, ob Sie direkt mit Ihren Gästen interagieren oder sie indirekt beobachten wollen. Hier sind einige Beispiele für Methoden, die Sie nutzen können:

Interviews:

Eine der einfachsten und effektivsten Methoden ist das persönliche Gespräch mit Ihren Gästen. Dabei sollten Sie – im Unterschied zur standardisierten Befragung mit Fragebogen – eher offene Fragen stellen, um mehr über ihre Motivationen, Bedürfnisse, Emotionen, Probleme und Erwartungen zu erfahren. Daraus können auch Job Stories abgeleitet werden.

Diese Methode „Job Stories“ im Methodenfinder entdecken (Log-In erforderlich).

Sie können auch Interview Cards verwenden, um das Gespräch zu strukturieren und zu visualisieren. Interview Cards sind Karten mit Fragen oder Aussagen, die Sie Ihren Gästen vorlegen können.
Sie können auch Stories oder Bilder verwenden, um Ihre Gäste zu inspirieren oder zu provozieren. Stories sind kurze Szenarien oder Geschichten, die eine Situation oder ein Erlebnis beschreiben. Das Ziel ist es, herauszufinden, wie Ihre Gäste darauf reagieren. Bei qualitativen Interviews ist es hilfreich, dass eine Person die Fragen stellt, während eine andere die Ergebnisse festhält oder auch aufnimmt. Dabei ist natürlich die DSGVO zu beachten, also ein Einverständnis der Probanden einzuholen.
Und wie viele Interviews brauchen wir? Das hängt von unserem Ziel und unserer Zielgruppe ab. Eine Faustregel ist jedoch: 10 Gäste reichen schon. Wenn wir mit 10 repräsentativen Personen aus der jeweiligen Zielgruppe sprechen, entwickeln wir ein sehr gutes Verständnis für ihre Bedürfnisse und Probleme. Wenn wir mehr als 10 Interviews führen, werden wir wahrscheinlich keine wesentlichen neuen Erkenntnisse mehr gewinnen.

Immersion:

Immersion bedeutet, selbst in die Rolle Ihrer Gäste zu schlüpfen und ihr Erlebnis aus erster Hand zu erfahren. Dabei können Sie zum Beispiel Ihr eigenes Angebot, Ihren Erlebnisraum, Wanderweg, Ihr Museum, das Hotel etc. persönlich nutzen, z.B. auch im Vergleich zu Ihrer Konkurrenz. Das Ziel ist es, Empathie für Ihre Gäste zu entwickeln und ihre Emotionen, Gedanken und Herausforderungen nachzuvollziehen. Hier ist es durchaus sinnvoll, diejenigen Mitarbeitenden einzusetzen, die sonst weniger im direkten Kontakt mit den Gästen stehen und weniger mit den Angeboten in Kontakt kommen, da diese einen eher unverstellten Blick haben. Wir kennen diese Methode auch aus den Mystery Checks, die z.B. in TIs oder in Hotels durchgeführt werden. Allerdings ist dabei der Blick oft schon durch eine professionelle Perspektive voreingenommen und muss längst nicht mehr der „Brille“ der Gäste entsprechen.

Beobachten:

Eine weitere Methode ist es, Ihre Gäste und Kunden*innen aus der Distanz zu beobachten und ihre Verhaltensweisen und Interaktionen zu analysieren. Dabei können Sie zum Beispiel auf die Spuren achten, die Ihre Gäste hinterlassen. Das können physische Spuren sein, wie Abfall oder Verschleiß, oder digitale Spuren, wie Klicks, Mobilfunkdaten oder Bewertungen. Das Ziel ist es, Muster und Anomalien in Ihrem Angebot oder im Verhalten der Gäste zu erkennen, um daraus Rückschlüsse auf ihre Bedürfnisse und Probleme zu ziehen. In der Tourist-Information lassen sich z.B. die Wege, die die Besucher*innen gehen, einfach analog in einen Grundriss eintragen. Mit der Zeit erkennen wir durch den sich füllenden Grundriss, wo in der TI sich Gäste am meisten bewegen oder aufhalten. Es entsteht eine Art analoger „Heat Map“. Selbstverständlich lässt sich das auch digital und in einem größeren Maßstab erfassen.

Walkthroughs:

Wir können die Gästeperspektive auch simulieren. Dabei können Sie zum Beispiel einen typischen Besuchsablauf Ihrer Gäste durch Ihr Angebot, Hotel, die TI etc. nachstellen, auch in einem Modell, das Sie z.B. vorab mit Lego Serious Play gebaut oder einfach auf einem Flipchart aufgezeichnet haben.

Die Methode „Desktop Walkthrough“ im Methodenfinder entdecken (Log-In erforderlich).

Das Ziel ist es, Schwachstellen oder Verbesserungspotenziale in Ihrem Angebot, Ihren Services und Prozessen zu identifizieren und zu bewerten. Stellen Sie sich dabei folgende, situative Fragen:

  • Was sehe ich?
  • Was höre ich?
  • Was rieche ich?
  • Was schmecke ich?
  • Was fühle ich?
  • Was denke ich?
  • Was empfinde ich?
  • Was erwarte ich?
  • Was wünsche ich mir?
  • Was ärgert mich?
  • Was begeistert mich?
Empathy Maps:

Empathy Maps sind ebenfalls eine bewährte Methode, um Sinneseindrücke und letztlich auch Emotionen der Gäste und Kunden*innen zu erfassen. Eine Empathy Map ist ein visuelles Werkzeug, das die Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Handlungen einer bestimmten Person oder Personengruppe darstellt. Eine Empathy Map kann man allein oder im Team erstellen, indem man ein Blatt Papier in vier Quadranten bzw. Bereiche teilt und diese mit den Überschriften „Sehen“, „Hören“ (oder auch „Riechen“), „Denken/Fühlen“ und „Sagen/Tun“ beschriftet. Dann füllen die Probanden die Quadranten mit entsprechenden Aussagen oder Zeichnungen aus. Die Empathy Maps lassen sich als analoger Erhebungsbogen herausgeben oder auch digital zur Verfügung stellen. Sie hilft, ein tieferes Verständnis für die Perspektive der Gäste oder Kunden*innen zu entwickeln.

Mental Maps:

Mental Maps oder kognitive Karten sind kartographische Darstellungen, die die subjektive Wahrnehmung eines bestimmten Raumausschnittes wiedergeben. Sie dienen zum einen der Erfassung der lebensweltlichen Umgebung durch die Eigenwahrnehmung der Menschen, zum anderen zur Darstellung subjektiv verkürzter Weltwahrnehmungen in Images. Um die Identität Ihrer Destination, eines Areals, Platzes, Museums etc. besser erfassen zu können, lassen sich Mental Maps einsetzen, um zu untersuchen, wie die Gäste, aber auch Bewohner*innen, sie wahrnehmen und bewerten. Dabei sind folgende Schritte durchzuführen:

  • Eine Gruppe von Probanden*innen auswählen, die repräsentativ für die Zielgruppe sind.

  • Die Probanden*innen bitten, eine Karte der Destination (oder eines Teilgebietes, einer Stadt, eines Parks, einer Straße etc.) aus dem Gedächtnis heraus zu zeichnen, ohne dabei auf Hilfsmittel zurückzugreifen. Dabei sollen sie alle Orte, Landschaftsmerkmale und Symbole einzeichnen, die ihnen wichtig oder charakteristisch erscheinen.

  • Die entstandenen Karten analysieren und vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der räumlichen Wahrnehmung und Bewertung zu erkennen. Dabei kann man auf Merkmale wie Generalisierung, Reduktion, Begradigung, Verzerrung, Auslassung oder Hervorhebung achten.

  • Die Ergebnisse interpretieren und diskutieren. Dabei lassen sich Ergebnisse erzielen wie: Welche Orte sind besonders bekannt oder beliebt? Welche nicht? Welche Landschaftsmerkmale, Orte oder Symbole prägen das Image bzw. die Nutzung und Wahrnehmung? Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung verschiedener Gruppen?

Customer Journey Maps:

Die Customer Journey Map ist so eine Art „Mutter aller Design Thinking Methoden“ und fasst nicht selten alle gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Dabei werden entlang der einzelnen Stationen, die die Gäste und Kunden*innen durchlaufen, z.B. während einer Reise, eines Besuchs oder Erlebnisses, sämtliche Emotionen, Höhepunkte und „Schmerzpunkte“, Situationen und Probleme erfasst und dokumentiert, um daraus Rückschlüsse auf Verbesserungen, Lösungen, schönere oder spannendere Erlebnisse abzuleiten.

Diese Methode „Customer Journey Maps“ im Methodenfinder entdecken (Log-In erforderlich).

 

Wie wird aus diesen Erkenntnissen eine Design Challenge?

Mit den Erhebungen haben wir einen umfassenden Problem- oder Erkenntnisraum geöffnet. Jetzt müssen wir diesen wieder verdichten. Eine Design Challenge ist eine konkrete und inspirierende Fragestellung, die den Ausgangspunkt für die Finalisierung des Design-Thinking-Prozesses bildet, also die Lösung oder Idee. Eine gute Design Challenge ist offen genug, um kreative Lösungen zu ermöglichen, aber auch fokussiert genug, um eine klare Zielgruppe und ein relevantes Problem oder eine Aufgabe zu definieren. Eine Design Challenge sollte zudem nicht nur die Bedürfnisse der Gäste und Kunden*innen, sondern auch die Ziele des Unternehmens, der Destination und den Kontext der Situation berücksichtigen. Ein guter Weg zu einer Design Challenge sind WKW-Fragen: „Wie können wir…?“.

Ein einfaches Beispiel mit Bezug zu einer Destination: „Wie können wir auch Familien mit Kindern in Magdeburg einzigartige und unvergessliche Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen?“ Diese Design Challenge beschreibt sowohl die Zielgruppe (Familien mit Kindern in einer Großstadt) als auch das Bedürfnis (einzigartige und unvergessliche Gemeinschaftserlebnisse) und das Ziel (die Attraktivität Magdeburgs für Familien zu steigern). Die Frage ist offen genug, um verschiedene Lösungsansätze zu ermöglichen, aber fokussiert genug, um eine klare Richtung vorzugeben.

Ein weiteres Beispiel mit Bezug zu einer einzelnen Einrichtung: „Wie können wir erreichen, dass Besucher*innen des Museums mehr Erkenntnisse gewinnen, die ihnen in ihrem aktuellen Lebensumfeld einen Nutzen bringen?“ Auch diese Design Challenge beschreibt die Zielgruppe (Museumsbesucher*innen), das Bedürfnis (mehr Nutzen und Erkenntnisse für den Alltag) und das Ziel (das Museum relevanter für Menschen zu machen).

Diese Methode „WKW-Fragen“ im Methodenfinder entdecken (Log-In erforderlich).

Damit wird deutlich: Der gesamte Prozess kann auf allen Maßstabsebenen umgesetzt werden, von der gesamten Destination bis hin zu einem singulären Serviceproblem.

Mit einer gut formulierten Design Challenge als Ergebnis dieser umfassenden Gäste- und Kundenfokussierung können wir in die nächste Phase des Design-Thinking-Prozesses übergehen: die Ideengenerierung, Entwicklung eines Prototypen und letztlich die Umsetzung.

 

Informationen zum Autor:

Matthias Burzinski

Seit 1995 als Berater, Teamplayer, Content Creator, Journalist, Projektmanager und Mensch im Tourismus-, Destinations- und Kulturmanagement unterwegs. Gründer von destinetCHANGE, dem Change-Management-Hub für Kultur und Tourismus. Seit 2006 Herausgeber und Redaktionsleiter der B2B-Plattform für Destinations- und Attraktionsmanagement www.destinet.de. Studienleitung des ReisePuls Deutschland und der Studie Job & Sinn.

Schwerpunkte: Design Thinking, Change Management, Innovationen, Storytelling, Placemaking, Experience Design, Netzwerkmanagement, Moderation, Facilitation, Tourist-Informationen, Kulturtourismus.

matthias.burzinski@destinet.de

https://change.destinet.de/


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